Lebensmittelrevolution: Wie Präzisionsfermentation unsere Ernährung komplett verändern wird

Der Bericht „Rethinking Food and Agriculture“ wurde von RethinkX, einer unabhängigen Denkfabrik, die sich auf technologischen Wandel konzentriert, im September 2019 veröffentlicht. Der Bericht untersucht die Auswirkungen neu entstehender Technologien auf die Lebensmittel- und Landwirtschaftsindustrie.

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie sind:

  • Präzisionsfermentation und zellulare Landwirtschaft werden in den nächsten 10 Jahren die konventionelle Tierhaltung und Fischerei ersetzen. Dies wird die Lebensmittelproduktion disruptiv verändern.
  • Präzisionsfermentierte Milchprodukte werden bis 2030 95% des Milchmarktes ausmachen. Kulturfleisch wird bis 2030 35% des Fleischmarktes ausmachen und bis 2035 den gesamten Markt dominieren.
  • Mehr als 70% der Kalorien in der menschlichen Ernährung werden bis 2040 aus präzisionsfermentierten und pflanzlichen Quellen stammen. Nur noch 4% der Kalorien werden aus konventionell erzeugtem Fleisch stammen.
  • Diese neuen Technologien werden die globale Lebensmittelproduktion um 70% senken. Treibhausgasemissionen werden um 92% reduziert. Pestizidverwendung sinkt um 90%. Antibiotika-Einsatz in der Tiermast sinkt um 80%.
  • Millionen Arbeitsplätze in der konventionellen Landwirtschaft und im Lebensmittelsektor werden wegfallen. Allerdings entstehen auch neue Jobs in den neuen Technologiesektoren. Regierungen müssen diesen Strukturwandel abfedern.

Der Bericht zeigt auf, dass der Wandel unvermeidlich und disruptiv sein wird. Regierungen und Unternehmen müssen sich darauf vorbereiten, um negative Folgen abzumildern. Die neuen Technologien bergen auch große Chancen für nachhaltigere Lebensmittelproduktion, weniger Umweltverschmutzung und gesündere Ernährung.

Präzisionsfermentation nutzt Mikroorganismen, um aus Pflanzenzutaten Milchprodukte, Fleisch und andere Nahrungsmittel herzustellen. Dies geschieht genau gesteuert in Bioreaktoren. Zellulare Landwirtschaft züchtet tierische Zellen, um daraus Fleisch und Fisch zu produzieren. Kulturfleisch ist nur eine der Möglichkeiten, im Prinzip sind sie alle technisch verwandt.

Diese neuen Methoden werden wesentlich effizienter und kostengünstiger sein als die konventionelle Tierhaltung. Sie benötigen 95% weniger Land, 99% weniger Wasser und erzeugen 96% weniger Treibhausgasemissionen – vom vermiedenen Tierleid einmal ganz abgesehen.

Große Investitionen fließen bereits in die Entwicklung dieser neuen Technologien. Startups, etablierte Lebensmittelkonzerne und Investoren sehen die disruptiven Möglichkeiten. 2021 flossen über 3 Milliarden Dollar in präzisionsgefermentierte Milchprodukte.

Regierungen müssen den bevorstehenden Strukturwandel durch Umschulungen und Investitionen abfedern. Bis 2030 werden über 150 Millionen Arbeitsplätze in der konventionellen Landwirtschaft und im Lebensmittelsektor verloren gehen. Aber es entstehen auch neue Jobs in der Hightech-Lebensmittelproduktion.

Der Bericht zeigt die enormen Möglichkeiten für eine nachhaltigere Lebensmittelproduktion auf. Er macht aber auch klar, dass die Disruption für konventionelle Landwirte existenzbedrohend sein wird. Nur durch frühzeitige Anpassung und politische Flankierung kann der Übergang sozialverträglich gestaltet werden. Insgesamt kann die Lebensmittelindustrie dadurch deutlich nachhaltiger und effizienter werden.

Präzisionsfermentation

Präzisionsfermentation kombiniert moderne Biotechnologien wie Genomik, Systembiologie und synthetische Biologie mit dem uralten Verfahren der Fermentation. Dadurch ist es möglich, Mikroorganismen wie Hefe oder Bakterien so zu programmieren, dass sie bestimmte Moleküle wie Milch- oder Fleischproteine herstellen. Die Produktion dieser Moleküle erfolgt in Bioreaktoren unter streng kontrollierten Bedingungen.

Die Vorteile von Präzisionsfermentation sind:

  • Es können beliebige Proteine, Fette und andere Moleküle produziert werden. Die Auswahl ist nicht auf natürlich vorkommende Verbindungen beschränkt.
  • Die Produktion ist unabhängig von landwirtschaftlichen Erträgen oder tierischer Verfügbarkeit. Sie kann das ganze Jahr hindurch stattfinden.
  • Durch die Produktion in Bioreaktoren können Umweltfaktoren wie Temperatur, Nährstoffzufuhr und ph-Wert optimal gesteuert werden. Die Ausbeute ist daher sehr hoch.
  • Die Produkte sind gentechnikfrei und unterscheiden sich chemisch nicht von natürlichen Verbindungen.
  • Der Prozess ist skalierbar und die Produktionskosten sinken exponentiell, da keine teure Infrastruktur wie Schlachthöfe erforderlich ist.

Zelluläre Landwirtschaft

Bei der zellulären Landwirtschaft werden tierische Zellen im Labor gezüchtet, um daraus Kulturfleisch und Kulturfisch zu produzieren. Muskelzellen, Fettzellen und Bindegewebe werden in einem Nährmedium kultiviert und zu Fleischstrukturen zusammengefügt.

Die Vorteile sind:

  • Es werden keine Tiere geschlachtet. Die Produktion ist ethisch vertretbar.
  • Es können beliebige Fleischsorten erzeugt werden. Auch exotische Arten oder Fleisch alter Tierrassen sind möglich.
  • Die Zusammensetzung des Fleisches kann gesteuert werden, z.B. hinsichtlich Fettgehalt oder Omega-3-Fettsäuren.
  • Die Produktion ist nicht abhängig von Weideland oder Futtermittelanbau. Sie kann überall stattfinden.
  • Die Produktion verursacht deutlich weniger Treibhausgasemissionen und ist sehr ressourcenschonend.

Auswirkungen auf die Milchindustrie

Kuhmilch besteht zu nur 3,3% aus Proteinen. Der Rest ist hauptsächlich Wasser. Präzisionsfermentation muss daher nur 3,3% der Milch ersetzen, um die gesamte Milchindustrie zu disruptieren.

Sobald die Kosten für fermentierte Milchproteine wie Kasein unter denen von Kuhmilchproteinen liegen, werden Milchproduzenten zu der kostengünstigeren Variante wechseln. Dadurch dürfte die die Nachfrage nach Kuhmilch einbrechen.

Laut Studie könnte bereits 2023-2025 könnte diese Kostenparität erreicht sein. Bis 2030 könnten 95% der Milchproteine aus Präzisionsfermentation stammen. Die konventionelle Milchindustrie wird dann weitgehend bankrott sein.

Auswirkungen auf die Fleischindustrie

Zunächst dürfte vor allem Hackfleisch durch pflanzenbasierte oder fermentationsbasierte Produkte ersetzt werden. Hier liegt die Kostenparität laut RethinkX bei 2021-2023 (der Zeitplan wurde nicht eingehalten, trotzdem dürfte es so kommen, wenn auch später). Bis 2030 könnte so 70% des Hackfleischmarktes substituiert sein.

Bei ganzen Fleischstücken ist die Struktur komplexer. Hier dürfte die zelluläre Landwirtschaft eine Rolle spielen. Bis 2030 könnten 30% des Marktes für Rindfleisch ersetzt sein.

Insgesamt könnte bis 2030 rund 50% des Rindfleischkonsums durch moderne Kulturfleisch-Alternativen gedeckt werden. Andere Fleischsorten wie Schwein und Huhn werden ähnlich betroffen sein.

Umweltauswirkungen

Der Bericht zeigt auf, dass die neuen Produktionsmethoden extrem ressourceneffizient sind. Für die gleiche Menge Protein werden 10-25 mal weniger Futtermittel, 10 mal weniger Wasser und 100 mal weniger Land benötigt als in der Tierhaltung.

Allein durch die Substitution von Rindfleisch und Milch könnten bis 2035 etwa 60% der aktuell für Tierhaltung genutzten Fläche in den USA frei werden. Das entspricht 485 Millionen Acres, einer immensen Fläche, größer als das Gebiet Louisiana.

Wenn 10% dieser Fläche für Aufforstung genutzt würde, ließen sich dadurch alle Treibhausgasemissionen der USA vollständig kompensieren. Damit hätte die Lebensmittelproduktion das Potenzial, CO2-negativ zu werden.

Wirtschaftliche Auswirkungen

Die neuen Produktionsmethoden werden die Kosten von Milch- und Fleischprodukten drastisch senken. Die Lebensmittelkosten amerikanischer Familien könnten sich so bis 2030 um über 1200 $ pro Jahr verringern.

Gleichzeitig entstehen neue Industrien und Arbeitsplätze. Bis 2030 könnten 700.000 Jobs in der Präzisionsfermentation und zellulären Landwirtschaft entstehen. Auch die Volkswirtschaften von Schwellenländern werden von dem kostengünstigen Zugang zu Proteinen profitieren.

Fazit

Der Bericht macht deutlich, dass die Lebensmittelproduktion vor einer tiefgreifenden Disruption steht. Neue Technologien ermöglichen eine nachhaltigere, effizientere und kostengünstigere Produktion von Milch, Fleisch und Fisch. Der Zeitplan der Studie ist zwar etwas zu optimistisch, in der Sache allerdings liegt sie richtig.

Regierungen und Unternehmen müssen sich auf den kommenden Strukturwandel vorbereiten, um dessen Chancen nutzen zu können. Gleichzeitig gilt es, die Risiken für die bestehende Agrar- und Lebensmittelindustrie abzumildern. Insgesamt bieten die Entwicklungen große Möglichkeiten für eine Verbesserung der globalen Ernährungssituation.